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Von – 30. September 2012

„Wir lassen uns die Begrenzung von Religion gefallen“

Was bedeutet die multireligiöse Gesellschaft für die großen christlichen Kirchen? Ein Gespräch mit Gabriele Scherle und Joachim Valentin. Teil 4: Das Verhältnis von Staat und Religion und der Atheismus.

Gabriele Scherle, Pröpstin für Rhein-Main, und Joachim Valentin, Leiter des Hauses am Dom, im Gespräch mit “Evangelisches Frankfurt”. Foto: Rolf Oeser

Wie wirkt sich die Multireligiosität auf das Verhältnis zwischen Staat und Religion aus?

Scherle: Viele Muslime sagen, das besondere deutsche Religionsverfassungsrecht sei für sie eine Möglichkeit, einen Ort in der Gesellschaft zu bekommen. Ich glaube, wir sind uns überhaupt noch nicht im Klaren darüber, was für ein Geschenk das ist. Wir haben in Deutschland positive und negative Religionsfreiheit, das heißt, unsere Verfassung begrenzt die Religionsausübung, aber gleichzeitig bestätigt sie sie auch positiv. Das ist eine echte Perspektive für einen Europa-Islam, und viele Muslime sehen diese Chance. Deshalb ärgere ich mich manchmal, wenn wir selbst gar kein Bewusstsein dafür haben, sondern auch in den Kirchen manche das französische Modell des laizistischen Staates befürworten.

Valentin: Ich bin aber optimistisch. Es spricht sich langsam herum, dass das deutsche Religionsrecht nicht bedeutet, die Kirchen zu bevorzugen, und dass es auch nicht darum geht, andere Religionen zu verdrängen, sondern nur darum, gleiches Recht für alle zu gewährleisten. Das heißt zum Beispiel auch, sich an den Universitäten über die Weltanschauungen auszutauschen und sie auf der Basis der Aufklärung zu reflektieren.

Wie ist denn das Verhältnis zum Atheismus? Gibt es eine Gemeinsamkeit zwischen den Glaubenden der verschiedenen Religionen und denen, die keiner Religion angehören wollen?

Scherle: Das ist schon eine Herausforderung. Die besteht aber auch darin, die etwa dreißig Prozent Konfessionslose nicht alle über einen Kamm zu scheren. Eine große Zahl versteht sich nach wie vor als religiös, andere als agnostisch, und nur ein ganz kleiner Teil als atheistisch. Solche Menschen können mir in mancher Hinsicht näher stehen als sehr gläubige Menschen, zum Beispiel in Menschenrechtsfragen oder in Emanzipationsfragen. Das will ich nicht verhehlen, denn es ist ja nicht so, dass intensive Religiosität vor Inhumanität oder gesellschaftlicher Verblendung schützt.

Ein Vorwurf, der von säkularer Seite gegen Religionen generell vorgebracht wird, ist ja, dass sie ein tendenziell konservatives, rückwärtsgewandtes Bild vom Menschen und von der Gesellschaft hätten.

Scherle: Religion ist immer ambivalent. Das gilt aber auch für jede andere Weltanschauung. Gegenwärtig sehen wir uns ja nicht nur mit einem religiösen, sondern auch mit einem atheistischen Fundamentalismus konfrontiert, der sich selbst als gesellschaftliches Heilsmittel versteht. Und ich erlebe solche Atheisten manchmal als besonders aggressiv. An diesem Punkt gibt es bei mir dann wieder große Solidarisierungsgefühle den anderen Gläubigen gegenüber. Pauschal zu behaupten, Religion sei schlecht und schlimm, ist einfach banal. Ein aufgeklärter Agnostiker ist mir dagegen in vielen Fragen durchaus nahe. Ich ringe auch jeden Tag immer wieder mit dem Glauben.

Valentin: Mit der Frage nach dem Verhältnis zum Atheismus beschäftigen wir uns derzeit in Frankfurt vielleicht zu wenig, was aber auch daran liegt, dass es einen organisierten Atheismus, wie zum Beispiel in Berlin, hier nicht gibt. Atheistische Stimmen sind in Frankfurt meistens die von Einzelnen.

Scherle: Ich glaube, dass Frankfurt in dieser Hinsicht etwas ganz Besonderes ist. Ich war kürzlich in Berlin, und es ist schon bemerkenswert, wie antireligiös die Gesellschaft dort ist. Im Vergleich dazu haben wir hier eine sehr weltoffene Stadt, wo auch die Politik religionsfreundlich ist, mit einer liberalen und offenen Grundhaltung.

Valentin: Das liegt auch an dieser bürgerlichen Haltung, wonach, wer sich engagiert und ein Projekt startet, erst einmal ein anerkannter Partner der Stadtgesellschaft ist. Das ist hier in Frankfurt eine alte Tradition.

Scherle: Und es hängt natürlich damit zusammen, dass diejenigen, die hier Religion vertreten, sich auch die Begrenzung von Religion gefallen lassen. Wir haben zwar eine Botschaft mit universaler Reichweite, aber wir wollen nicht einen Geltungsanspruch durchsetzen. Vielmehr lassen wir uns von der Politik begrenzen und versuchen, unseren Beitrag für das Ganze zu leisten. Ich habe den Eindruck, da sind wir als Großkirchen hilfreich für die anderen Religionen. Denn sie sehen, dass wir diese Begrenzungen akzeptieren, aber dadurch nicht klein gemacht werden, sondern trotzdem unseren Raum in der Gesellschaft bekommen.

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Artikelinformationen

Beitrag von , veröffentlicht am 30. September 2012 in der Rubrik Menschen, Stadtkirche, erschienen in der Ausgabe .

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Dr. Antje Schrupp ist geschäftsführende Redakteurin von Evangelisches Frankfurt. Die Journalistin und Politikwissenschaftlerin bloggt auch unter www.antjeschrupp.com.