Der Protestantismus ist pluralistisch, er kennt keine zentralen Glaubensdogmen. Manche vermissen deshalb eine klare Identität und eindeutige Botschaften. Doch gerade diese Flexibilität ist hilfreich, wenn sich neue Herausforderungen stellen.
Immanuel Kant, Dietrich Bonhoeffer, Wilhelm II., Rudi Dutschke, Angela Merkel, George W. Bush und Martin Luther King – sie alle gehören zum protestantischen Spektrum. Schmallippige Moralisten ebenso wie ekstatische Tänzerinnen, Rechte wie Linke. Protestanten können sich für die Einsegnung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften stark machen oder sie für teuflisch halten, für Frauenordination votieren oder eine Männerkirche bilden, sich zur Bischofskirche bekennen oder gemeindeorientierte Presbyterianer sein, intellektuell oder naiv, elitär oder egalitär, Baptistinnen, Lutheraner, Waldenserinnen, Mennoniten, Pfingstlerinnen…
Schon die großen Ahnherren des Protestantismus – Luther, Calvin, Zwingli und Melanchthon – waren in Theologie, politischer Haltung, Frömmigkeit und Ethik keineswegs gleichgesinnt. Statt vom Zeitalter der Reformation müsste man eher von dem der Reformationen (im Plural) sprechen. Gemeinsam ist ihnen nur, dass sie sich gegen jede katholizistische Bevormundung wenden und sich stattdessen auf ihre persönliche Einsicht in die Heilige Schrift berufen.
Das Studium der Bibel bringt Unterschiedliches hervor
Das Studium der Bibel bringt allerdings höchst Unterschiedliches hervor. Protestanten können trefflich darüber streiten, ob zum Beispiel die Bergpredigt als politisches Programm zu verstehen ist oder nur im Privatleben Geltung beansprucht. Überhaupt sind sie untereinander die schärfsten Kritiker und im permanenten Streit um die Wahrheit. Im Vergleich zum Katholizismus, der mit einer starken Geschlossenheit und großer auch medialer Durchsetzungsfähigkeit auftritt, scheint der Protestantismus mit seinem breiten Spektrum eher zu einem konturlosen Brei zu verschwimmen, in dem sich unterschiedliche Richtungen gegenseitig blockieren und bis zur Bedeutungslosigkeit neutralisieren. Aber gerade das macht die Kultur des Protestantismus aus, denn Protestanten wehren sich gegen jedes von oben verordnete dogmatische Denken.
Durch das Austragen ihrer Differenzen halten sie das Gespräch über die Bibel in Gang, das in anderen Kirchen leicht unter päpstlichen Verlautbarungen erstickt wird. Gerade weil er kein starres System kennt, kann der Protestantismus Bibel und Lebenssituation immer wieder neu und flexibel in einen Zusammenhang bringen und – ähnlich wie ein mutationsfreudiger Virus – auf Veränderungen mit neuen Frömmigkeitsprofilen reagieren.
Das erfordert jedoch einerseits aktive Positionierung, andererseits Demut und Akzeptanz. Unterschiedliches muss erst einmal nebeneinander stehen bleiben, weil auf jede autoritäre Regung eine allergische Reaktion erfolgt. Protestantinnen lassen sich auf komplexe synodale Verhandlungen mit breitester Diskussion und langwieriger Mehrheitsfindung ein, weil sie der Überzeugung – oder zumindest der Hoffnung – sind, dass auf diese Weise qualitativ bessere Entscheidungen zustande kommen.
Andere protestantische Kulturen werden entstehen
Von außen sind protestantische Meinungsbildungsprozesse oft schwer nachzuvollziehen und erkennbar mühsam, doch wegen der mit ihr einhergehenden Anpassungsfähigkeit könnte sich diese Vielgestaltigkeit langfristig sogar als evolutionärer Vorteil erweisen. Manches deutet darauf hin, dass in Deutschland die noch immer stark landeskirchlich geprägte Frömmigkeit weiter an Raum verliert. Ausgehend von den multireligiösen Ballungszentren der Großstädte werden sich in der Masse derer, die nicht oder nicht mehr Kirchenmitglieder sind, nach und nach andere protestantische Kulturen herauskristallisieren.
Dieser Prozess ist sicher nicht durch Reglementierungen zu stoppen. Allenfalls durch bewusst gelebte und als bereichernd anerkannte breite protestantische Pluralität.