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Von – 29. Mai 2013

Oskar Negt: Einigung Europas entscheidet sich am Sozialen

Soziale Protestbewegungen wie das Occupy-Camp, das ein Jahr lang vor der Europäischen Zentralbank in Frankfurt aufgebaut war, haben nach Auffassung des Sozialphilosophen Oskar Negt eine wichtige Bedeutung für die Demokratie. 

Oskar Negt gestern Abend bei seinem Vortrag zur Eröffnung der Fotoausstellung "300 Tage unter dem Euro-Zeichen". Foto: Rolf Oeser

Oskar Negt gestern Abend bei seinem Vortrag zur Eröffnung der Fotoausstellung „300 Tage unter dem Euro-Zeichen“. Foto: Rolf Oeser

Negt sprach gestern Abend im Haus am Dom zur  Eröffnung einer Fotoausstellung mit Bildern und Texten von Getraude Friedeborn, Wolf Gunter Brügmann-Friedeborn und Johannes Trost, die mit dem Titel „300 Tage unter dem Euro-Zeichen“ das Frankfurter Camp und seine Entwicklung dokumentiert.

Die Friedensfähigkeit Europas, wo es seit sechzig Jahren keinen Krieg gegeben hat, hänge maßgeblich damit zusammen, dass nach dem Zweiten Weltkrieg die soziale Frage und die Würde des Menschen in den Mittelpunkt gestellt worden seien, sagte Negt. Die Marktwirtschaft sei keineswegs aus sich selbst heraus sozial, wie heute viele glaubten, sondern das „Soziale“ in den europäischen Gesellschaften sei, zum Beispiel von der Arbeiterbewegung, gegen den Widerstand der Marktwirtschaft erkämpft worden. Mit gutem Grund habe sich nach 1945 in Europa die Einsicht durchgesetzt, dass Wirtschaft nie ohne politische Kontrolle bleiben darf.

Sozialstaat das Zentrum der deutschen Verfassung

Der Sozialstaat bilde das Zentrum der deutschen Verfassung und sei nicht bloß eine Versorgungshilfe für Bedürftige. Soziale Gerechtigkeit sei „das europäische Pfund, mit dem man wuchern könnte“, betonte Negt, ein Alleinstellungsmerkmal, an dem sich eine europäische Identität herausbilden ließe. Stattdessen werde soziale Gerechtigkeit geopfert. Für soziale Aufgaben und Bildung sei immer weniger Geld da, während unvorstellbare Summen für Bankenrettungen ausgegeben werden.

Neu sei, dass inzwischen sogar ganze Volkswirtschaften vom Wohlstand „abgekoppelt“ werden. „Aber wenn die Peripherie verödet, werden die Empörungspotenziale so groß, dass das demokratische Gerüst Europas gefährdet ist“, warnte Negt. „Im Unterholz der alltäglichen Sorgen der Menschen entsteht eine zunehmende Enttäuschung über die demokratischen Strukturen, weil die ihr Elend nicht aufhalten.“ Das Gelingen oder Scheitern Europas entscheide sich nicht am Euro, sondern an der sozialen Frage. Sie müsse bei den Überlegungen zur Einigung Europas im Zentrum stehen.

Proteste wie Occupy haben eine stabilisierende Funktion

Proteste wie Occupy würden dafür sorgen, dass das nicht in Vergessenheit gerät, und hätten daher eine stabilisierende Funktion, sagte Negt. In diesem Sinn würdigte auch Gunter Volz, als Pfarrer für gesellschaftliche Verantwortung der evangelischen Kirche einer der Mitveranstalter der Ausstellung, das Engagement der Occupy-Aktivistinnen und Aktivisten. „Occupy hat für die gesamte Gesellschaft eine prophetische Funktion übernommen und den Opfern der Krise eine Stimme und ein Gewicht gegeben“, sagte Volz. „Es liegt an uns allen, diese Anregungen aufzunehmen und weiterzudenken.“

Die Ausstellung ist noch bis zum 10. Juni im Haus am Dom zu sehen. Ihr Mitinitiator Wolf Gunter Brügmann-Friedeborn, der auch Mitglied im Vorstand des Evangelischen Regionalverbandes Frankfurt ist, hat seinerzeit die Occupy-Bewegung auch für „Evangelisches Frankfurt“ kommentiert.

Artikelinformationen

Beitrag von , veröffentlicht am 29. Mai 2013 in der Rubrik Stadtkirche, erschienen in der Ausgabe , .

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Dr. Antje Schrupp ist geschäftsführende Redakteurin von Evangelisches Frankfurt. Die Journalistin und Politikwissenschaftlerin bloggt auch unter www.antjeschrupp.com.