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Aktuell

Von – 15. Oktober 2013

Es wird eher zu viel geglaubt

Ob an Staat und Markt, an Engel und kosmische Energien oder an sich selbst – die Menschen glauben heute nicht weniger als früher. Nur eben nicht mehr an Gott. Plädoyer für eine aufgeklärte, protestantische Religiosität.

Gabriele Scherle ist Pröpstin für Rhein-Main

Gabriele Scherle ist Pröpstin für Rhein-Main

Das 20. Jahrhundert lehrt uns, dass die Menschen auch morgen noch glauben werden. Denn trotz der Befreiung der Gesellschaft von religiöser Kontrolle (Säkularisierung), trotz schwindender religiöser Praxis und wachsender Distanz zu religiösen Organisationen (Entkirchlichung) und trotz der Rationalisierung und Ethisierung des Denkens (Entzauberung) ist der Glaube an dieses oder jenes nicht verschwunden. Ganz im Gegenteil: es wird heute inbrünstig geglaubt.

Lassen Sie es mich in einem Sprachbild ausdrücken. Das religiöse Zutrauen hat sich durch die Jahrhunderte in der biblisch begründeten Vorstellung ausgedrückt, dass unser Leben in Gottes Hand liegt, ja dass Gott den ganzen Kosmos in Händen hält – und dass eben deshalb alles gut werden wird. Das Bild von der Hand, durch die alles gut wird, ist inzwischen vom Gottesglauben getrennt. So glauben die einen an die Macht der öffentlichen Hand, die anderen an die unsichtbare Hand des Marktes, und die dritten an die Macht, das Leben ganz in die eigenen Hände nehmen zu können. Die damit verbundene Annahme, dass dadurch alles gut wird, weist darauf hin, dass es sich hier um Glauben handelt. Das was früher einmal Gott zugetraut wurde, die Erhaltung der Welt und des eigenen Leben, das wird heute dem Staat, dem Markt oder dem Individuum zugetraut. Und so verehren die einen ihre politischen Führer, die anderen die gottgleiche Macht des Geldes, und – vielleicht die Mehrheit – bewundert vor allem sich selber, den eigenen „body“ und die eigene „bio-graphie“.

Wem und was und warum geglaubt wird, das ist heute also durchaus vielfältig. Der christliche Glaube findet sich nun in einer Gesellschaft wieder, die tiefgläubig ist, aber eben im Sinne einer radikalen Immanenz. Dieser spirituelle Diesseitigkeitsglaube zeigt sich auch in all jenen Praktiken, die ihr Leben und die Welt von animistischen Mächten bestimmt sehen, die sie beeinflussen wollen: Sterne und Steine gehören dazu, Energien im Kosmos und im eigenen Körper und sogar die ganz irdische Welt der Engel. Derselbe Diesseitigkeitsglaube zeigt sich aber auch in soziobiologischen oder kosmologischen Theorien, die in der Physiologie des Hirns oder der physikalischen Annäherung an den Urknall eine Antwort auf die Gottesfrage zu finden meinen. Diese Form der Überschätzung der Vernunft, die sich selbst als Glaubensinhalt setzt, prägt unser Bewusstsein nachhaltig.

An die Hand Gottes, die das Schicksal der Welt lenkt – hier eine Adaption des berühmten Gemäldes von Michelangelo in der Sixtinischen Kapelle – glauben heute nur noch wenige. Foto: Sergey Nivens, Fotolia.com

An die Hand Gottes, die das Schicksal der Welt lenkt – hier eine Adaption des berühmten Gemäldes von Michelangelo in der Sixtinischen Kapelle – glauben heute nur noch wenige. Foto: Sergey Nivens, Fotolia.com

Allerdings ist nicht jedem Zeitgenossen klar, dass es sich dabei um eine Form des Glaubens handelt. Und wie immer in der Geschichte der Menschheit ist ein unaufgeklärter Glaube gefährlich, der meint, in der eigenen Denkform oder der eigenen sozialen Praxis wäre die Wahrheit Fleisch geworden. Esoterische Ver-Führer, Hassprediger unterschiedlicher religiöser Richtungen und neuheidnische Wissenschaftler bieten ihre fundamentalistischen Sicherheiten auf dem Markt der Weltanschauungen an. Und jede gesellschaftliche Krise, jede persönliche Verunsicherung bietet ihnen einen Nährboden.

So findet sich der aufgeklärte protestantische Glaube, heute in einer Welt wieder, in der esoterische Geheimlehren, religiös-politische Fundamentalismen und eine natur-religiöse Wissenschaftlichkeit unsere Herzen und Köpfe besetzen wollen. Und eben das macht es so schwer, einen reflektierten christlichen Glauben heute selbstbewusst zu vertreten.

Allerdings dürfen wir vermuten, dass es den Christen der ersten Jahrhunderte nicht viel anders ging. Auch sie mussten ihre Glauben in einer religiös umkämpften Welt vertreten. Aus dieser Auseinandersetzung hat sich die Architektur christlicher Theologie entwickelt. Der Glaube der nach Einsicht sucht, er macht sich fest an der Auslegung der Bibel und er denkt entlang der trinitarischen Glaubensregel, dem Credo. Und eben weil sie Rechenschaft über ihren Glaubensgrund ablegt, konnte die Theologie zur Wissenschaft werden und zur ersten Fakultät an den europäischen Universitäten. Und schließlich war es in der Neuzeit gerade die protestantische Differenz zwischen Glaube und Vernunft, die der Vernunft zur Freiheit verhalf – und die anderen Wissenschaften davon befreite, Glauben begründen zu wollen.

Artikelinformationen

Beitrag von , veröffentlicht am 15. Oktober 2013 in der Rubrik Gott & Glauben, erschienen in der Ausgabe .

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