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Von – 17. Februar 2014

Längst losgelassen

Schwangerschaften verlaufen nicht immer glücklich. Doch wie davon sprechen? Unser Autor Georg Magirius hat sein Buch „Schmetterlingstango. Leben mit einem totgeborenen Kind“ neben die Sprachlosigkeit gesetzt. Es erzählt von seiner Tochter, die nach neun Monaten Schwangerschaft tot zur Welt gekommen ist. Zwei Jahre hat er an dem Buch gearbeitet. Es kann, so hofft er, „womöglich denen etwas Atem geben, die Ähnliches erleben, sich im eigenen Schweigen oder dem der anderen gefangen fühlen.“ Mit Erlaubnis des Verlages drucken wir hier einen Auszug ab.

Oft hört man, dass es nötig sei, Vergangenes loszulassen. Gemeint ist ein Lebensabschnitt, ein Ort, das erwachsen gewordene Kind, Freunde oder der Verstorbene. Beim Loslassen handelt es sich um alltagspsychologisch auf ein Wort zugespitzte Erkenntnisse, die auf einem Ansatz innerhalb der Trauer- und Sterbeforschung fußen. Ihm zufolge handelt es sich beim Trauern um einen Prozess, dessen Durchwandern wieder beziehungsfähig mache. Die Phasen müssen nicht zwangsläufig nacheinander, aber im Großen und Ganzen doch alle durchschritten werden: Nach dem Nichtwahrhaben-Wollen, dem Leugnen, der Phase der Wut und des Suchens erreiche man schließlich einen Zustand, in dem man den Verlust akzeptiert. Der Verstorbene kann zu einer inneren Figur werden, was gleichwohl voraussetzt, dass man sich von ihm trennt. So kann es nach dem Erleben sozialer Distanzierungen zur Wiedereingliederung in die Gesellschaft kommen.

Nicht loslassen zu können ist dann das Bild für eine Störung in diesem Prozess, etwa für das Verharren in der Phase des Nichtwahrhaben-Wollens. Man weigert sich, inneren Frieden zu finden und das Leben neu anzupacken. Stattdessen befindet sich der Trauerprozess-Verweigerer im Stau, weil er das geliebte, aber doch nachweislich vergangene Leben nicht lassen will. Er hält die Finger krampfartig am Alten fest. Wer dagegen loszulassen lernt, sich also – um das Bild weiter auszumalen – vom Beckenrand abstößt, dem kann es gelingen, wieder frei zu schwimmen. Soweit, so plausibel und logisch.

Das Problem, falls es überhaupt eins ist: Meine Tochter ist nicht alt geworden, hat offiziell betrachtet nicht einen Tag gelebt. Da war nur die Schwangerschaft, sonst nichts. Und dennoch, knapp zwei Jahre nach Julianes Geburt stelle ich nüchtern an mir fest: Selbst wenn ich loslasse, und ich wollte es schon oft, kommt es nicht wirklich zum Abschied. „Vielleicht übertreiben wir mit unserer Trauer?“, fragen sich viele Eltern von Kindern, die nicht mehr leben. So frage ich mich auch. Und indem ich auf diese Weise frage, fühle ich mich wie in einer falschen Haut. Und ich überlege weiter: Soll ich in eine andere Haut schlüpfen, indem ich das Vergangene einfach gehen lasse? Also gut, beschließe ich erneut: Ich lasse meine Tochter gehen! Sie allerdings scheint auf eigenwillig andere Weise sehr lebendig zu sein, denn immer kommt sie zurück, ohne dass ich das Gefühl habe, dass sie mich damit am Leben hindern wolle. Denn gerade sie gibt mir oft die Sicherheit, in der einzig richtigen Haut zu sein, nämlich in meiner: Wenn ich traurig und unruhig bin, rufe ich mir ihr Bild vor Augen: Augenblicklich werde ich ruhig.

Warum funktioniert das mit dem Loslassen bei vielen Menschen nicht? Bei mir verhält es sich so: Ich kann nicht loslassen, weil ich Juliane längst losgelassen habe, sie loslassen musste, nicht nur bildlich, sondern konkret. Nach der Geburt war sie bei uns, das waren einige Stunden. Wann immer ich wollte, konnte ich sie halten und berühren und tat es auch. Noch weitere Tage könnten wir sie bei uns haben, sagte die Hebamme an Julianes Geburtstag. Aber, da waren sich Mutter und Vater einig: Das würde nichts daran ändern, dass wir sie lassen müssen. Die Mutter beugte sich über ihr Kind und freute sich: „So etwas Schönes also haben wir zustande gebracht!“ Ich stellte mich dazu und wunderte mich. Wir staunten Juliane an: ein Wunderkind. Und schon wieder nahm ich sie auf meine Arme, als ob diese eigens fürs Wiegen geschaffen worden wären. So stieg ich die Treppe hinab.

Denn wir hatten in der Frauenklinik ein Zimmer ganz weit oben, direkt unterm Dach. Wir wurden freilich nicht abgeschoben, sondern eher hinaufgehoben. Dort oben nämlich gab es eine Luxussuite für Vater, Mutter, Kind, die man uns infolge unsrer eigensinnigen Tochter zugewiesen hatte. Von dort aus trug ich sie hinab in jene Region, wo die gewöhnlichen Familien logierten – auf der Suche nach einer Schwester, die Juliane für immer von uns nehmen könnte. Wir wollten nicht die ganze Nacht zu dritt verbringen, sonst hätten wir sie vermutlich nie mehr losgelassen. Ich hörte – was in einer Geburtsklinik kein Wunder ist – Babys schreien. Meine Tochter? Schwieg verträumt, wie fortgeschritten. Sie war eben, sagt der stolze Vater, anderen Babys voraus. Als ich dann eine Schwester traf, wusste sie mit dem Wunderkind nichts anzufangen. Es passte nicht recht in diese Welt. Folglich konnte ich sie noch nicht loslassen, sondern nahm sie wieder mit nach oben, wo einige Stunden später ein Mädchen aus unserem Blickfeld genommen wurde, das die Augen traumhaft geschlossen hielt. So ließ ich sie los und kann das Träumen nicht lassen, sie eines Tages wieder zu berühren.

Georg Magirius: Schmetterlingstango. Claudius-Verlag 2013, 142 Seiten, 14,90 €.

Artikelinformationen

Beitrag von , veröffentlicht am 17. Februar 2014 in der Rubrik Bücher & Filme, Lebenslagen, erschienen in der Ausgabe .

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Georg Magirius ist Theologe und Schriftsteller und Kolumnist bei "Evangelisches Frankfurt". Mehr unter www.georgmagirius.de.