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Von – 14. April 2014

„Frankfurt ist die westdeutscheste Stadt von allen“

Die Bürgerrechtlerin, ehemalige Grünen-Chefin und Beauftragte für die Stasi-Akten, Marianne Birthler, stellte in Frankfurt ihre Autobiografie „Halbes Land. Ganzes Land. Ganzes Leben“ vor.

Marianne Birthler las in Frankfurt aus ihrer Biografie. Foto: Ilona Surrey

Marianne Birthler las in Frankfurt aus ihrer Biografie. Foto: Ilona Surrey

„Das ist ja noch etwas ungewohnt für mich“

Sie setzt sich an das vorbereitete Pult, rückt Lampe und Lesebrille zurecht, und liest dann aus ihrer Biographie. „Das ist ja noch etwas ungewohnt für mich“, sagt Marianne Birthler in der Evangelischen Akademie am Römerberg. Sie war Revolutionärin, Abgeordnete, Ministerin, und Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, kurz „Birthler-Behörde“. Sie leitete dieses Amt von 2000 bis 2011, stand an der Spitze von „Bündnis 90/Die Grünen“, saß mit Sozialministerin Regine Hildebrandt im Kabinett von Manfred Stolpe. Aus Protest gegen dessen mutmaßliche Stasi-Vergangenheit trat sie von ihrem Ministerinnen-Amt zurück. Natürlich hatte sie auch schon in der DDR zur Opposition gehört.

Ohne FDJ-Bluse zum Abitur

Marianne Birthler ist Zeugin einer Zeit, die fast schon vergessen scheint. Ihre Erinnerungen betreffen zunächst sehr persönlich Erlebnisse: die Lehrer, die Schule, die feinen Unterschiede in einer Diktatur. Da war es schon ein Ausdruck von Freiheit, wenn man nicht in der FDJ-Bluse zum Abitur kommen musste. Wie sie, kaum zwanzig Jahre alt, schwanger mit ihrem Mann in eine Wohnung zog, und wie ihre Mutter für sie die Hochzeit organisierte. „Das hatte für mich einen Hauch von Konfirmation“, sagt sie. Aber sie berichtet auch von der sicher schwierigen Zeit als ihr Mann als Wehrdienstverweigerer drei Jahre lang zu den „Bausoldaten“ musste.

„Halbes Land. Ganzes Land. Ganzes Leben“ heißt ihr Buch, und es ist sehr persönlich geworden. Birthler berichtet aber auch von den großen politischen Wendemarken. Etwa vom Sonderparteitag der Grünen 1993, wo die Partei vor dem Hintergrund des Bosnienkrieges erbittert um die Frage von Krieg und Frieden debattierte.

„Alle wollten es so wie im Westen“

Sie erzählt vom Umbau des Bildungssystems in den Bundesländern, die früher DDR waren. „Alle wollten es so wie im Westen. Die Ostdeutschen haben sich das westdeutsche Bildungssystem ohne Not selbst übergestülpt.“ Und sie lässt auch durchblicken, dass im Fusionsprozess von Bündnis90/Die Grünen die Westdeutschen mit einem lustlos und wortkarg im Salat stochernden Joschka Fischer schon eher desinteressiert waren: „Er (Fischer) kam aus der westdeutschesten aller deutsche Städte“ – aus Frankfurt nämlich.

Im Gespräch in der Akademie weicht Birthler auch kritischen Fragen nicht aus. Etwa der, warum ausgerechnet sie, die sie aus der Kirche kam – wie war früher Mitarbeiterin eines evangelischen Stadtjugendpfarramts gewesen – das Unterrichtsfach „L-E-R“ eingeführt habe, also „Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde“ alternativ zum konfessionellen Religionsunterricht. Ihre Antwort: „Ich fand es bedauernswert, dass im Unterricht religiöse Themen ausgegrenzt waren. Ich wollte alle Religionsgemeinschaften einbeziehen.“

Im Kirchenchor konnte man Gitarre spielen

Wie kam es eigentlich dazu, dass sie als DDR-Bürgerin sich zur evangelischen Kirche hielt? Ihre Eltern seien keineswegs kirchlich gewesen. Trotzdem habe ihre Mutter gewollt, dass sie konfirmiert werde, erzählt Birthler. Und dann kam der Kirchenchor, da konnte man Gitarre spielen lernen. „Und dann verliebte ich mich in den Sohn des Pfarrers.“

Aber klar, da waren auch noch die Dritte-Welt-Gruppen, die auch viele Menschen anzogen, die keine Christen waren. „Es war so etwas wie politische Diakonie“, konstatiert Birthler. „Das hat mich fasziniert und war toll. Da haben wir die ersten politischen Erfahrungen gemacht.“

Erfahrungen, die ihr später halfen, dem Druck auch eines Kanzlers Gerhard Schröder zu widerstehen. Helmut Kohl wehrte sich gegen die Herausgabe einer ihn betreffenden Akte und hatte in seinem Nachfolger einen Unterstützer. Aber Birthler setzte sich durch, die Akte wurde freigegeben.

Artikelinformationen

Beitrag von , veröffentlicht am 14. April 2014 in der Rubrik Menschen, erschienen in der Ausgabe , .

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Kurt-Helmuth Eimuth ist Mitglied in der Redaktion von "Evangelisches Frankfurt". Mehr über den Publizisten und Erziehungswissenschaftler ist auf www.eimuth.de zu erfahren.