Hinweis

Diese Website wurde am 28. November 2017 archiviert. Neues Online-Angebot: Evangelische Kirche in Frankfurt.

Aktuell

Von – 26. Mai 2014

Nur die Augen sehen nichts

Markus Mauerer ist Erzieher in der Kita „Sonnenschein“ in Fechenheim – und blind. Die Kinder profitieren sehr von seinen Stärken.

Toben ohne Blindenstock: Auch auf dem Außengelände der Kita findet sich Markus Mauerer gut zurecht. Foto: Ilona Surrey

Toben ohne Blindenstock: Auch auf dem Außengelände der Kita findet sich Markus Mauerer gut zurecht. Foto: Ilona Surrey

Tony, Mursi, Dani, Sofie, Giuliano und andere Kinder sitzen im Halbkreis auf dem Boden. Sarah, heute besonders anlehnungsbedürftig, hockt auf dem Schoß von Markus Mauerer, ihrem Erzieher. „Welchen Monat haben wir gerade?“ fragt er die Drei- bis Sechsjährigen. Schweigen. Gerangel auf der linken Seite. „Tony, mach keinen Quatsch!“ ruft Mauerer. Seine Stimme ist tief und sonor. Und das ist gut.

Denn der 35 Jahre alte Erzieher, der seit einem Jahr in der Kita „Sonnenschein“ der Gemeinde Fechenheim arbeitet, ist von Geburt an blind. Seine Augen sind meistens geschlossen. Er erkennt die Kinder an ihren Stimmen und Bewegungen und spricht sie immer wieder direkt an. „Jetzt ist der Monat März!“ ruft Sofie endlich. „Gut, Sofie“, lobt Mauerer. „Noch einmal schlafen, dann ist Frühlingsanfang!“

Nach dem Morgenkreis gehen die Kinder nach draußen. Aber erstmal Schuhe und Jacken anziehen. „Wo ist mein zweiter Gummistiefel?“ fragt Mursi „Weiß ich nicht“, antwortet Mauerer. Mursi muss selbst suchen. Drei Minuten später hat er zwei Gummistiefel an. „Ich musste als Kind auch immer selbst meine Sachen suchen“, erzählt der Erzieher. „Das war für mich besonders schwer, denn ich konnte ja nichts sehen. Aber es hat mich auch erzogen. Und dass ich nicht sehen kann, erzieht jetzt die Kinder hier in der Kita ebenfalls zur Selbstständigkeit.“

Draußen scheint die Sonne, es ist ein warmer Frühlingstag. Markus Mauerer geht langsam, tastend. Ein Roller liegt ihm im Weg. Er stößt dagegen, verliert aber nicht das Gleichgewicht, sondern umrundet das Hindernis mit weichen Bewegungen. Ein kleines Mädchen nimmt seine Hand, passt sich seinem Schritt an. Der Erzieher läuft zielsicher auf das Holzgerüst mitten auf dem Außengelände zu und setzt sich.

Schon kommt Mursi angelaufen und beschwert sich: „Ur hat mich geboxt.“ Mauerer nimmt Mursis Hand. „Dann sag ihm: Wir boxen oder schlagen hier nicht!“ Der Junge nickt und läuft wieder davon. „Manchmal ist es wichtig, dass man einfach nur da ist“, sagt er.

Jetzt weint jemand. „Ejesa, was ist denn?“ fragt Mauerer. „Nein, das ist Eda!“ ruft Dani. „Eda, wo tut es dir weh?“ Mauerer korrigiert sich sofort und nimmt Eda auf den Arm.

Die Fächer der Kinder sind mit Blindenschrift gekennzeichnet. Foto: Ilona Surrey

Die Fächer der Kinder sind mit Blindenschrift gekennzeichnet. Foto: Ilona Surrey

Im Grunde war Mauerer schon seit einem Praktikum in der zwölften Klasse klar, dass er mit Kindern arbeiten will. Aber weil er fürchtete, keine Stelle zu bekommen, fing er nach dem Abitur auf dem Gymnasium für Sehbehinderte und Blinde in Marburg erst einmal eine Ausbildung im Archiv an. „Schon nach vier Wochen hatte ich genug“, erzählt er. „Nur Daten in den Computer eingeben war total langweilig und hat mich überhaupt nicht gefordert!“

Es war nicht leicht, einen Ausbildungsbetrieb zu finden und den Platz für das praktische Anerkennungsjahr danach. Aber Mauerer nahm die Herausforderung an. Die richtige Feuerprobe kam aber erst, als das schließlich geschafft war: eine Stelle suchen. Siebzig Bewerbungen hat der junge Mann geschrieben. „Wenn große Umschläge im Briefkasten waren, wusste ich schon: Das ist eine Absage. Die wollen keinen Blinden“, erzählt er. Elf Monate lang hagelte es Absagen, und das, obwohl in Kitas Fachkräftemangel herrscht. Eine schwere Zeit. Dann endlich kam ein Anruf aus Fechenheim. „Guten Tag, hier ist Jeanine Duplois. Ich leite die evangelische Kita Sonnenschein und habe ihre Bewerbung gelesen. Sehr interessant! Wann können Sie vorbeikommen?“

Sofie zieht Mauerer in Richtung große Schaukel, in die mehrere Kinder passen. Sie weiß, dass sie ihn am besten gleich an die Hand nimmt, wenn er kommen soll. „Anstoßen, anstoßen!“ rufen die anderen Kinder. Und schon lässt Mauerer die Schaukel schwingen. „Wer sitzt denn hier drin?“ ruft er. „Sofie, Sejesa, Sani, Soni?“ – „Nein!“ rufen die Kinder lachend. „Dann vielleicht Bofie, Bejesa, Bani, Boni?“ fragt Mauerer. „Nein!“ rufen die Kinder und haben ihren Spaß. „Na gut, dann eben mit Z: Zofi,…“ Kindergartenkinder lernen spielerisch. Markus Mauerer kennt viele Sprachspiele.

„Seine freundliche Stimme hat mir schon am Telefon gefallen“, erinnert sich Jeanine Duplois. Und als er dann hereinkam und sich hier gleich ohne Blindenstock bewegte – das war beeindruckend.“ Einen Draht zu den Kindern habe Mauerer sowieso gleich gehabt. „Er geht liebevoll und wertschätzend mit ihnen um. Wir haben hier ja Kinder aus den unterschiedlichsten Kulturkreisen, jedes ist anders. Da können sie doch auch gleich lernen, dass es Menschen gibt, die wieder auf andere Weise anders sind und sich darauf einstellen. Das tun sie auch ganz selbstverständlich. Und die Eltern auch. Da hatten wir zuerst schon Befürchtungen.“

„Ich kenne aber auch meine Grenzen“, sagt Mauerer. „Über zwanzig Kinder beim Mittagessen – das ist mir zu viel, da hole ich mir Verstärkung.“ Heute sind aber nur zwölf Kinder in seiner Gruppe, das managt er alleine. Zuerst hat er die Kinder gezählt. An der Wand im Essraum hängen kleine Fotos von jedem Kind aus seiner Gruppe, darunter steht in Blindenschrift der Name. Mauerer tastet und sagt laut: „Dani ist da, Tony ist da, Anna ist heute im Wald.“ Weil er nicht sehen kann, ist sein Gedächtnis sehr trainiert.

Jeder Mensch ist anders – und das gilt auch für die Erzieher. Foto: Ilona Surrey

Jeder Mensch ist anders – und das gilt auch für die Erzieher. Foto: Ilona Surrey

Dani und Tony dürfen heute Tischdienst machen. Sie holen den Wagen mit dem Geschirr aus der Küche. Mauerer zählt die Teller und das Besteck ab und gibt sie den beiden Jungen nacheinander in die Hände, die verteilen sie dann auf den Tischen. Der Erzieher nimmt Schüsselchen und Löffel für den Nachtisch vom Wagen. Er tastet sich mit den Füßen vorwärts, bis seine Beine einen Tisch an der Seite berühren. Er stellt die Schüsseln ab, ertastet den Tisch mit den Händen, platziert den Becher mit den Löffeln. Langsam, aber sicher. Nichts fällt herunter oder kippt um.

Jetzt muss Tony auf’s Klo. „Aber schnell wiederkommen!“ sagt Mauerer. Tony nickt. Die Kinder spüren: Ihr Erzieher hat sie fest im Blick, auch wenn seine Augen nicht sehen können.

Markus Mauerer hat jetzt einen unbefristeten Vertrag als Erzieher. „Als ich die Probezeit bestanden hatte, ist mir ein Stein vom Herzen gefallen“, sagt er. Aber auch Jeanine Duplois und das Team sind bereichert. „Markus ist hier sehr präsent“, sagt die Leiterin. „Letztes Jahr haben zwei Kinder an ihrem letzten Tag bei der Abschlussfeier weinend auf seinem Schoß gesessen. Sie konnten sich einfach nicht von ihm trennen.“

Artikelinformationen

Beitrag von , veröffentlicht am 26. Mai 2014 in der Rubrik Menschen, erschienen in der Ausgabe .

Artikel teilen: E-Mail Facebook Twitter Google+

Stephanie von Selchow ist Redakteurin von "Evangelisches Frankfurt".

Kommentare zu diesem Artikel

  • Marlon schrieb am 10. Juni 2014

    In stillem Gedenken

    https://www.facebook.com/pages/Markus/1490838694481231

  • Andrea schrieb am 2. August 2014

    Ich habe den Artikel auf Facebook gelesen. Einfach wunderbar! Aber ich habe grad auch gelesen, dass Markus im Juni gestprben ist …. Traurig … Was ist ihm denn zugestoßen?

  • Antje Schrupp schrieb am 3. August 2014

    @Andrea – Ein tragischer, aber „natürlicher“ Tod.