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Von – 26. Mai 2014

Verantwortung der Mehrheit

Ein Mann mit Bart im glitzernden Abendkleid gewinnt den Eurovision Song Contest: Mit der Wahl von Conchita Wurst setzte das europäische Publikum ein Zeichen für Toleranz.

Conchita Wurst bei ihrem Auftritt in Kopenhagen. Hinter der Kunstfigur steht der 25 Jahre alte Sänger Thomas Neuwirth. Als Junge sei er in der Schule gehänselt worden, weil er Frauenkleider mag und sich zu anderen Jungen hingezogen fühlte, erzählt er. Heute ist er überzeugt, dass Faktoren wie sexuelle Orientierung oder Geschlecht eigentlich „Wurst“ sind. Foto: picture alliance / Vladimir Astapkovich

Conchita Wurst bei ihrem Auftritt in Kopenhagen. Hinter der Kunstfigur steht der 25 Jahre alte Sänger Thomas Neuwirth. Als Junge sei er in der Schule gehänselt worden, weil er Frauenkleider mag und sich zu anderen Jungen hingezogen fühlte, erzählt er. Heute ist er überzeugt, dass Faktoren wie sexuelle Orientierung oder Geschlecht eigentlich „Wurst“ sind. Foto: picture alliance / Vladimir Astapkovich

Nicht nur die Telefonvoten aus Westeuropa, auch die Zuschauerinnen und Zuschauer aus Ländern wie Armenien, Aserbaidschan oder Weißrussland stimmten in großer Anzahl für den Künstler, der mit seinem Auftritt gegen feste Geschlechternormen und Homosexuellen-Feindlichkeit protestierte.

Wo viele Menschen mit unterschiedlichen Ansichten, Gewohnheiten und Lebensgeschichten zusammenleben – also eigentlich überall – braucht es Toleranz. Niemals werden sich alle über jede Kleinigkeit einig sein. Toleranz, also die Fähigkeit und Bereitschaft, andere Menschen anders sein zu lassen, auch wenn ihr Verhalten unverständlich ist oder sogar rundheraus falsch erscheint, ist eine wichtige Tugend.

Das heißt nicht, dass alles akzeptiert werden muss. So tolerieren wir in Europa zum Beispiel keinen Sex mit Kindern, offenen Rassismus oder Polygamie, sondern haben Gesetze dagegen. So etwas wird nicht toleriert, sondern bestraft.

Bei vielen anderen Themen hingegen herrscht keine Einigkeit. Was wäre zum Beispiel, wenn nicht ein Sänger auf der Bühne, sondern der bärtige Mathematiklehrer der benachbarten Schule plötzlich im luftigen Sommerkleid zum Unterricht käme und darauf bestünde, mit Frauennamen angesprochen zu werden?

Toleranz ist immer eine fragile Angelegenheit. Jeder Mensch, auch der toleranteste, hat irgendwo eine Grenze. Sie muss bewusst gezogen werden.

Was gesamtgesellschaftlich toleriert wird und was nicht, wird in einer Demokratie normalerweise per Mehrheitswillen entschieden. Aber das ist auch heikel. Denn die Mehrheit kann auf diese Weise der Minderheit immer ihren Willen aufzwingen. Andersrum hingegen funktioniert es nicht.

Und darin liegt die eigentliche Wichtigkeit von Toleranz: dass Menschen bereit sind, darauf zu verzichten, ihre eigenen Ansichten durchzusetzen – obwohl sie es könnten. Wenn es also darum geht, die Grenzen der eigenen Toleranz zu definieren, dann stehen vor allem diejenigen in der Verantwortung, die mit ihren Ansichten in der Mehrheit sind.

Denn auf ihre Toleranz kommt es ganz besonders an.

Artikelinformationen

Beitrag von , veröffentlicht am 26. Mai 2014 in der Rubrik Ethik, Kultur, erschienen in der Ausgabe .

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Dr. Antje Schrupp ist geschäftsführende Redakteurin von Evangelisches Frankfurt. Die Journalistin und Politikwissenschaftlerin bloggt auch unter www.antjeschrupp.com.