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Von – 21. Februar 2015

„Nicht auch noch das!“

Wie erlebten Muslime und Musliminnen in Frankfurt das Attentat auf das französische Satiremagazin Charlie Hebdo in Paris? Ein Beitrag des islamischen Theologen Selçuk Dogruer.

Selçuk Dogruer ist Mitglied im Frankfurter Rat der Religionen und Landesbeauftragter von Ditib. Foto: Ilona Surrey

Selçuk Dogruer ist Mitglied im Frankfurter Rat der Religionen und Landesbeauftragter von Ditib. Foto: Ilona Surrey

Nach dem Attentat in Paris war die Spannung in den muslimischen Gemeinden förmlich zu spüren. Einige hatten Angst vor möglichen Anschlägen auf ihre Moschee, denn die Zahl solcher Anschläge stieg schnell an. Allein in der Woche nach dem abscheulichen Attentat in Paris gab es in Frankreich fünfzig Anschläge auf muslimische Einrichtungen. Neulich wurde ein achtjähriges muslimisches Kind von der französischen Polizei verhört. Es ist nicht einfach, in unserer Zeit Muslim zu sein.

Viele Muslime und Musliminnen sind mit Entfremdungserfahrungen und tiefen Wunden nach Deutschland gekommen, Erfahrungen von Diskriminierung und Demütigung. Die meisten Länder, aus denen sie kamen, befinden sich heute im Krieg. Viele haben Verwandte und Freunde verloren. Auch ich habe Freunde verloren, mit denen ich in Syrien einst studierte und zusammen wohnte. Es quält mein Herz, wenn ich nichts tun kann und verzweifelt zusehen muss, wie die Menschen in all diesen schönen Ländern sterben müssen. Traurig verfolgen wir in den Medien die Gräueltaten der religiösen Extremisten im Nahen Osten und beten für all die Toten dort, die ja vorwiegend Muslime sind: 1,5 Millionen Menschen sind im Irak, in Syrien, in Libyen, in Ägypten und anderswo seit dem Anfang des Irakkriegs am 20. März 2003 gestorben.

Als das Terrorattentat in Paris geschah, hat man für den ersten Moment still gehalten und versucht, den Schock zu bewältigen. „Nein, nicht auch noch das!“ – so war die kollektive Reaktion auf das Attentat. Wir waren doch gerade auf dem Weg, als Muslime anerkannt zu werden! Und nun verzwickte sich die Atmosphäre, Irritation statt Hoffnung. In der Spannung zwischen Pegida und Paris fragte mich meine Frau: Können wir sicher in Deutschland weiterleben?

Heute, einige Wochen später, antworte ich mit einem überzeugten Ja. Denn die Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland hat sich gegen pauschale Urteile über „die Muslime“ und gegen islamfeindliche Bewegungen wie „Pegida“ entschieden. Sie lässt sich weder von Terroristen noch von Rechtsextremisten bestimmen. Die meisten Menschen in Deutschland nehmen Freundschaften, die Chancen der Vielfalt, die Toleranz, vielleicht auch die kulinarische Bereicherung, aber vor allem: unsere Freiheiten ernst. Heute hat sich die Spannung in meinem Umfeld verhältnismäßig wieder gelegt.

Foto: Rolf Oeser

Unmittelbar nach dem Attentat in Paris rief das Frankfurter Römerbergbündnis zu einer Kundgebung in Solidarität mit den Opfern auf. Foto: Rolf Oeser

Trotzdem muss vieles noch verarbeitet werden, zum Beispiel auch unterschiedliche Einschätzungen. Für manche gehört es einfach dazu, sich über alles lustig zu machen. Besonders beim Thema Religion holen sie weit aus, weil Religionen ja nicht in die Moderne passen und archaisch sind. Die Fronten zwischen Religion und Anti-Religion schaukelten sich seit der Aufklärung immer weiter hoch, das ist in Deutschland und vor allem in Frankreich lange Tradition.

Wer aus anderen Regionen der Welt hierher kommt, muss das erst einmal verstehen. Muslime und Musliminnen haben einen großen Sinn für Humor, aber die meisten von ihnen ziehen eine Grenze, wenn Witze sich auf das Intime beziehen. Respekt im Bereich des Heiligen gilt ihnen als Tugend und weniger als Einschränkung der Meinungsfreiheit. Auch unter Muslimen ist Satire weit verbreitet, aber eine Schmähung der Religion insgesamt, eine Verhöhnung Gottes, des Korans und der Propheten gilt im kollektiven Bewusstsein als unangemessen.

Ich denke, dass bei diesem Gegensatz von Säkularität und Religion eine Versöhnung ansteht, damit sich unsere Gesellschaft sowohl durch die großen Errungenschaften der Aufklärung als auch durch das große Potenzial der Religion weiter entfalten kann. Dafür braucht es aber auf beiden Seiten mehr Empathie und Toleranz. Toleranz bedeutet dabei nicht nur, die Meinung des anderen zu dulden, sondern sie ist eine Haltung der Bescheidenheit: dass ich dem anderen die Möglichkeit der Wahrheit zugestehe und mir selbst die Möglichkeit des Irrtums.

Artikelinformationen

Beitrag von , veröffentlicht am 21. Februar 2015 in der Rubrik Gott & Glauben, erschienen in der Ausgabe , .

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