Hinweis

Diese Website wurde am 28. November 2017 archiviert. Neues Online-Angebot: Evangelische Kirche in Frankfurt.

Aktuell

Von – 27. September 2015

100 plus X Sorten Christentum

Die meisten Migrantinnen und Migranten, die nach Deutschland kommen, gehören nicht dem Islam an, sondern dem Christentum. Manche sind katholisch, andere orthodox, einige lutherisch oder anglikanisch, und viele haben gar keine feste Tradition. Ein Interview mit Dietmar Will, der für das Evangelische Stadtdekanat Frankfurt den Kontakt zu den Migrationsgemeinden hält.

Gottesdienst einer Gemeinde der presbyterianischen Kirche von Ghana. Sie trifft sich regelmäßig in der Kirche Cantate Domino in der Nordweststadt. Foto: Ilona Surrey

Gottesdienst einer Gemeinde der presbyterianischen Kirche von Ghana. Sie trifft sich regelmäßig in der Kirche Cantate Domino in der Nordweststadt. Foto: Ilona Surrey

Herr Will, wie viele verschiedene christliche Gemeinschaften gibt es denn in Frankfurt?

Ich gehe immer von „100 plus X“ aus. Ich kenne allein schon ungefähr 17 verschiedene ghanaische und 25 verschiedene koreanische Gemeinden. Genau beziffern kann man das aber nicht. Viele Gruppen treffen sich privat irgendwo im Wohnzimmer. Es gibt da eine große Dynamik.

Welche Art von Theologie vertreten diese Gemeinden?

Die größte Zahl changiert zwischen freikirchlich, evangelikal und pfingstkirchlich. Allerdings sind solche klassischen Einordnungen den Gemeinden selbst oft fremd. Sie sagen einfach „Wir glauben an die Bibel!“ Diese Gemeinden sind oft sehr jung und ganz informell. Ihre Leiter haben normalerweise nicht Theologie studiert, sondern arbeiten in einem anderen Beruf und leiten die Gemeinde in der Freizeit.

Pfarrer Dietmar Will. Foto: Ilona Surrey

Pfarrer Dietmar Will. Foto: Ilona Surrey

Das Bedürfnis, sich zum Gottesdienst mit Menschen derselben Herkunft zu treffen und in der Muttersprache zu feiern, ist natürlich nachvollziehbar. Aber warum gibt es gleich so viele Gruppen eines Landes? Wäre es nicht naheliegend, nur eine ghanaische oder koreanische Gemeinde zu haben?

Das frage ich sie auch immer: Warum wollt Ihr jetzt noch die achtzehnte Gemeinde gründen? Aber das ghanaische Modell zum Beispiel ist, dass man, wenn man sich von Gott dazu berufen fühlt, eben eine Gemeinde gründet. Dort spricht man von „Mushroom Churches“, von Kirchen, die wie Pilze aus dem Boden sprießen.

Im Protestantismus wurden ja schon immer neue Kirchen gegründet, meist aus theologischen Differenzen. Wie breit ist denn das Spektrum dessen, was in diesen Gemeinden geglaubt wird?

Für alle ist jedenfalls die Bibel die Grundlage. Aber dann fängt es schon an: Ist die Bibel wortwörtlich von Gott inspiriert oder muss man sie historisch-kritisch auslegen? Unterschiedlich ist auch das Verständnis von Wundern und Heilung: Sind die biblischen Wundergeschichten wörtlich oder metaphorisch gemeint? Manche Gemeinden haben auch die Idee, sie müssten die tote Christenheit in Deutschland wieder erwecken, der es ihrer Meinung nach an Begeisterung fehlt.

Manche dieser Unterschiede sind wohl eher kultureller Natur. Ein magisches Naturverständnis ist in Ghana generell verbreitet, nicht nur unter Christinnen und Christen. Und ein eher rational-wissenschaftliches Denken ist in Deutschland die Regel und keine Besonderheit der Kirchen. Werden solche Differenzen leichter besprechbar, wenn man sich auf eine gemeinsame Schrift bezieht?

Wenn das Gespräch gelingt, kann die Bibel tatsächlich ein verbindendes Element sein. Aber oft entzündet sich genau daran der Streit, im Sinne von: „Wir glauben richtig und ihr glaubt falsch.“ Eines der großen heißen Eisen ist zurzeit der Umgang mit Homosexualität. Da haben wir als evangelische Kirche inzwischen eine akzeptierende Haltung, aber viele Migrationsgemeinden halten Homosexualität schlicht für Sünde.

Gelungene Kooperation: Jugendliche der griechisch orthodoxen Gemeinde in Bockenheim bekommen nach einer Ausbildung beim Evangelischen Jugendwerk die Ökumenische „Jugendleitercard“ überreicht. Foto: Ilona Surrey

Gelungene Kooperation: Jugendliche der griechisch orthodoxen Gemeinde in Bockenheim bekommen nach einer Ausbildung beim Evangelischen Jugendwerk die Ökumenische „Jugendleitercard“ überreicht. Foto: Ilona Surrey

Gibt es inhaltliche Positionen, bei denen Sie sagen würden: Wer das vertritt, mit dem kann ich nicht mehr zusammenarbeiten?

Ich finde es immer schwierig, anderen das Christsein abzusprechen. Aber ein solcher Punkt wäre für mich, wenn Wunderheilungen als Beweis dafür angesehen werden, ob jemand gläubig ist oder nicht. Da gibt es wirklich Missstände, zum Beispiel fingierte Heilungen. Da trennen sich für mich die Wege.

Üblicherweise gilt die Mitgliedschaft in der „Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen“ (ACK) als Voraussetzung für Kooperationen mit anderen Konfessionen. Funktioniert diese Instanz in Bezug auf diese Migrationsgemeinden?

Nur eingeschränkt, weil die Mitgliedschaft in der ACK natürlich einen gewissen Organisationsgrad voraussetzt, der bei vielen dieser Migrationsgemeinden einfach nicht gegeben ist. Deshalb haben wir 1999 einen „Internationalen Konvent Christlicher Gemeinden Rhein-Main“ gegründet. Momentan sind dort 26 Gemeinden aus allen Kontinenten Mitglied, und außer der katholischen sind alle christlichen Konfessionen vertreten.

Hat sich dort schon einmal die Frage gestellt, ob eine Gemeinde nicht „rechtgläubig“ genug ist, um aufgenommen zu werden?

Nein, wir sitzen dort nicht zu Gericht darüber, wer christlich ist und wer nicht. Das Kriterium ist ein anderes: Um mitzuarbeiten, muss man die anderen Konfessionen anerkennen und akzeptieren, zum Beispiel deren Taufe.

Gibt es Gemeinden, die die Taufe der anderen nicht anerkennen?

Ja. Das erlebe ich momentan vor allem von einigen koreanischen Gruppen hier im Rhein-Main-Gebiet, die ein sehr starkes Sendungsbewusstsein mit Exklusivitätsanspruch haben. Sie sprechen gezielt Menschen in schwierigen Lebenslagen an und versuchen, sie an sich zu binden, teilweise über einen Personenkult. Und sie werben anderen koreanischen Gemeinden Mitglieder ab. Auf so einer Basis funktioniert Zusammenarbeit natürlich nicht.

Haben Sie ein Leitbild für die ökumenische Zusammenarbeit?

Mir gefällt das Bild des Paulus von dem einen Leib mit den vielen Gliedern: Wir sind als christliche Gemeinden unterschiedlich, aber alle beziehen wir uns auf ein Haupt, nämlich Jesus Christus. Das hilft uns, soziale, kulturelle und konfessionelle Unterschiede auszuhalten.

Artikelinformationen

Beitrag von , veröffentlicht am 27. September 2015 in der Rubrik Gott & Glauben, erschienen in der Ausgabe , .

Artikel teilen: E-Mail Facebook Twitter Google+

Dr. Antje Schrupp ist geschäftsführende Redakteurin von Evangelisches Frankfurt. Die Journalistin und Politikwissenschaftlerin bloggt auch unter www.antjeschrupp.com.