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Von – 9. September 2015

Mit dem Blick der Straße – etwas andere Stadtführungen

Eine Stadtführung der besonderen Art können Interessierte bei den Frankfurter Stadtevents buchen: Ein ehemals Obdachloser führt zu den Orten seines früheren Lebens.

Organisieren die Stadtführungen „Straßenblick“: Thomas Adam, Dorothée Honauer, Renate Lutz und Tim Graumann (v.l.n.r.). Foto: Lieselotte Wendl

Organisieren die Stadtführungen „Straßenblick“: Thomas Adam, Dorothée Honauer, Renate Lutz und Tim Graumann (v.l.n.r.). Foto: Lieselotte Wendl

Unter dem Titel „Straßenblick“ führt Thomas Adam jeden zweiten Sonntag Gruppen von bis zu 15 Personen zu den Orten, die lange Jahre sein Leben bestimmten und die er hinter sich gelassen hat: zu Orten der Obdachlosigkeit. „Ich zeige den Leuten, wo ich gebettelt, gesoffen, geklaut und betrogen habe“, sagt Adam. Aber er erzähle auch, wo und wie er Hilfe gefunden habe, um aus seiner jahrelangen Alkoholsucht und dem Leben auf der Straße herauszukommen.

„2006, als Klinsmann die WM versiebt hat, haben manche angefangen zu saufen. Ich habe damals aufgehört“, erzählt Adam freimütig. Auch dass die Entgiftung im Bürgerhospital, die er damals durchmachte, längst nicht sein erster Versuch war, vom Alkohol wegzukommen, gibt er zu. Nach dem Entzug ohne den täglichen Begleiter Alkohol auszukommen, sei schwer gewesen. „Ich musste viel an mir arbeiten, habe viele Gespräche geführt.“ Ein Jahr lang habe er Hilfe im  Suchttherapiezentrum in Höchst erfahren. Nachdem er zunächst in 1,50 Euro-Jobs tätig war, versuchte er es im ersten Arbeitsmarkt. „Da bin ich zusammengebrochen“, erinnert er sich. Er musste erkennen, dass seine jahrelange Alkoholsucht und das Leben auf der Straße nicht nur seine Psyche angegriffen, sondern auch seinen Körper kaputtgemacht hatten.

Job weg, Frau weg, Wohnung weg

Aber aufgegeben hat der heute 55-Jährige nicht. Sehr gern denkt er an seinen „besten Job“ zurück. Damals begleitete er für die evangelische Blindenarbeit fünf blinde Menschen in ihren Alltagstätigkeiten, etwa beim Einkaufen. „Ich habe aufgepasst, dass sie auch ihr Wechselgeld richtig rausbekommen.“ Nach verschiedenen Stationen in sozialen Hilfeeinrichtungen, unter anderem im Wohnwagenprojekt der Caritas, lebt er heute wieder in einer eigenen Wohnung. Bei den Führungen berichtet er auch von seinem Leben und beantwortet Fragen. „Es kommen viele Fragen, und oft vermute ich, dass in den Familien der Leute auch einer ist, der gerne trinkt.“ Ihm ist es wichtig, zu vermitteln, dass er bis zu seinem dreißigsten Lebensjahr ein „ganz normaler Mann“ war, mit Ausbildung als Schlosser und Schweißer, mit Job und Ehefrau. „Bis das Saufen immer mehr wurde und dann: Job, weg, Frau weg, Wohnung weg.“

Auch wenn er die Route immer mal wechselt – „damit mir nicht langweilig wird“ – gehören bestimmte Plätze fest zu seiner Führung. So beginnt er immer am Eisernen Steg, wo er damals am frühen Morgen seine „Stammkundschaft“ hatte. „Eine alte Frau brachte mir immer Kaffee und Brote.“ Dann geht’s über den Römer und die Neue Kräme an die Konstablerwache, wo auch heute viele Wohnungslose ihr Lager aufgeschlagen haben. Das technische Rathaus, wo er seinerzeit seine „Platte“, seine Übernachtungsstätte, aufschlug, ist inzwischen abgerissen.

Ganz bewusst finden seine Touren an Sonntagen statt. Er kann dann auch den Franziskustreff in der Liebfrauenkirche zeigen, der sonntags offiziell geschlossen ist. Er will die Menschen, die an den Werktagen dorthin kommen, nicht vorführen. Er selbst sagt übrigens immer noch „Wendelin“ zu dem Hilfeangebot der dortigen Kapuzinermönche. Pater Wendelin, der den Treff gründete und inzwischen verstorben ist, ist Namensgeber und bei vielen wohnungslosen Menschen unvergessen.

Die Welt verbessern mit unternehmerischem Ansatz

Wie aber kommt ein ehemals obdachloser Mensch dazu, bei Stadtführungen seine Vergangenheit zu offenbaren? „Ich selbst wäre nie auf so einen Gedanken gekommen“, sagt Adam. Entwickelt wurde die Idee der Stadtführungen der anderen Art von Studentinnen und Studenten der Goethe-Universität im Rahmen des Netzwerks „Enactus Universität Frankfurt“. Enactus-Mitglieder gründen nach dem Motto „Die Welt verbessern mit unternehmerischem Ansatz“ Projekte, deren Ziel es ist, die Lebensqualität von Menschen zu steigern. Die Projekte sollten sich nach einer Anlaufzeit selbst tragen, sagten Dorothée Honauer und Tim Graumann von der Gruppe „Straßenblick“.

Und so haben sie für das Projekt als Kooperationspartner das Weser 5 Diakoniezentrum gefunden gewonnen, das im Frankfurter Bahnhofsviertel eine breite Palette von Unterstützungsangeboten für wohnsitzlose Menschen bereithält – unter anderem einen Tagestreff, eine Beratungsstelle und Notübernachtungsmöglichkeiten. „Nachdem wir an einer Führung mit Thomas Adam teilgenommen haben, waren wir restlos begeistert“, sagt Renate Lutz, die das Zentrum leitet. Langfristig sei daran gedacht, dass Weser 5 das Projekt der Studenten übernimmt. Die Buchungen werden aber weiterhin über die Stadtevents erfolgen. „Das könnten wir gar nicht leisten“, so Lutz. Dagegen kann sie sich vorstellen, dass sie dabei hilft, neben Thomas Adam weitere ehemalige obdachlose Stadtführer zu finden.

Die Führung „Straßenblick“ ist über frankfurter-stadtevents.de zu buchen. Beginn ist jeden zweiten Sonntag auf der Sachsenhäuser Seite des Eisernen Stegs. Thomas Adam führt Gruppen bis zu 15 Personen – von 14 bis über 80 war bei den bisherigen Führungen schon jedes Alter vertreten – zum Preis von 15 Euro pro Person. Der größte Teil des Erlöses fließt in die Arbeit von Weser 5. Die Führung ist auf 90 Minuten konzipiert, aber „manchmal dauert es auch länger, weil so viele Fragen zu beantworten sind“.

Weitere Informationen unter strassenblick.de

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Beitrag von , veröffentlicht am 9. September 2015 in der Rubrik Stadtkirche, erschienen in der Ausgabe , .

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