Mitten in der Katastrophe wird Leben zum täglichen Überleben. Was das bedeutet, können fiktive Erzählungen besser vermitteln, als Zahlen und Fakten in den Nachrichten.
„Es ist, als wartete ich darauf, an die Reihe zu kommen“, schreibt der syrische Autor Khaled Kalifa in seiner Erzählung über das Leben in Aleppo, einer Stadt, die seit eineinhalb Jahren praktisch täglich mit Fassbomben beworfen wird. Seine Worte erklingen in der Stille der Katharinenkirche, der deutsche Journalist Hasnain Kazim leiht ihnen seine Stimme.
Denn Kalifa selbst hat seine syrische Heimat nicht verlassen. Nicht, weil er noch Hoffnung hätte. „Bei dem Gedanken, in die Falle getappt zu sein, wird mir die Brust eng“, schreibt er. Und: „Ich bin kraftlos, ich habe aufgehört, zu fragen, was morgen passiert.“ Aber seine Worte vermitteln dem Publikum in Deutschland eine Ahnung davon, wie Alltag in Syrien momentan aussieht. Dass man zum Beispiel die Fenster ständig geöffnet hält, damit die Scheiben nicht bersten.
An drei Abenden brachte der Börsenverein des Deutschen Buchhandels unter dem Motto „Eine Stunde Schönheit“ Literatur von Menschen aus Kriegs- und Krisengebieten in die Katharinenkirche. Keine schöne Literatur, die eine heile Welt entwirft, sondern eine, die auf das Fehlen von Schönheit hinweist. Die anschaulich macht, was Kriege und Krisen für die Menschen bedeuten, die in ihnen leben.
Das klingt manchmal sarkastisch, wie in dem Roman „Paranoia“ des weißrussischen Autors Viktor Martinowitsch, aus dem Karl Schlögel liest. Vordergründig ist es eine unglückliche Liebesgeschichte, und die Paranoia des Protagonisten sieht auf den ersten Blick wie gewöhnliche Eifersucht aus. Doch nicht nur seine Geliebte verdächtigt er, ein Verhältnis mit der Geheimpolizei zu haben. Der Überwachung kann in diesem Land niemand entgehen.
Wie viel Angst ist realistisch, und wo fängt die Paranoia an? Diese Frage stellt auch Rainer Merkel in seinem Buch „Go Ebola Go“. Er schildert eine Aufklärungskampagne in einem Dorf in Liberia. Der Protagonist schwitzt, aber soll er sich die Stirn mit der Hand abwischen? Oder sitzt da schon der Virus?
Mitten in der Katastrophe, so wird in den Lesungen deutlich, wird Leben zum täglichen Überleben. Der Tod ist als reale Möglichkeit ständiger Begleiter des Alltags. Was das bedeutet, können fiktive Erzählungen besser vermitteln, als Zahlen und Fakten in den Nachrichten.