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Von – 13. Juli 2017

Ein Engel in der U-Bahn

Wenn wieder mal Terroristen unbeteiligte Menschen umbringen, oder wenn bei einem Hochhausbrand wie in London Dutzende Unschuldige sterben, weil geldgierige Vermieter an den Schutzmaßnahmen gespart haben, wünscht man sich, es gäbe Schutzengel, die so was verhindern. Wilfried Steller hat einen getroffen.

Wilfried Steller. Foto: Rui Camilo

Rush Hour in der U-Bahn. Ein mulmiges Gefühl beschleicht mich: Was, wenn jetzt einer… Ich male mir das nicht weiter aus, zu furchtbar ist der Gedanke. Aber wenn ich um mich schaue, scheinen das beinahe alle zu denken. Keine neugierigen und aufgeschlossenen Blicke gehen umher, jeder scheint mit sich selbst beschäftigt, registriert aber aus den Augenwinkeln heraus alles Ungewöhnliche.

Ich muss innerlich grinsen: Ein Schutzengel wäre jetzt gut. Als Kind habe ich gehört, jeder habe einen Schutzengel hinter sich, und ich habe mich dabei gefragt, ob der nicht zerquetscht wird, wenn ich mich an eine Wand lehne oder mich hinsetze. Jetzt aber könnte er uns allen hier allein durch seine Anwesenheit ein gutes Gefühl des Behütetseins geben, selbst wenn es nur einer für zehn oder zwanzig von uns wäre.

Aber da steht kein Engel, vielmehr wird die existentielle Not greifbar, die damit verbunden ist, dass niemand wirklich weiß, wozu einer der Anwesenden hier im nächsten Augenblick seinen freien Willen nutzen wird, den Gott ihm gegeben hat, um eigentlich verantwortungsvoll damit umzugehen.

Ich wehre den Gedanken ab, dass die Röhre, in der wir unterwegs sind, zum Ort der Demonstration eines absurd-blutrünstigen Glaubens, zum Grab, zum Mahnmal werden könnte, da sehe ich ihn stehen, den Engel. Er schaut mich an, haucht mir mit seinem Blick etwas zu: „Auch wenn du hier in Stücken herumliegst, wirst du deine Ganzheit behalten. Auch wenn deine Lebensträume unvollendet bleiben, wirst du die Fülle des Lebens spüren. Auch wenn dein Leben Stückwerk geblieben ist mit verkehrten Entscheidungen und Irrwegen, mit verzagten Anfängen und ausgebliebenen Verheißungen, wirst du Vollendung erleben. Auch wenn du im Lebenshunger steckengeblieben bist: Einst wirst du Raum haben, in dem du alle Wege gehen, mit allen Entscheidungen ins Reine kommen, alle ungenutzten Chancen realisieren, lebenssatt auf deine Existenz schauen kannst.“

Der Engel ist verschwunden, aber seine Botschaft bleibt. Einen magischen Schutzmantel gibt er mir nicht, der alles Böse von mir abhält. Aber mein reales Leben mit seinen Grenzen und Ängsten, mit seinem Scheitern und seinem Mangel an Glück – es ist nicht das ganze Leben. Mein reales Leben behält immer etwas Unvollendetes, aber Gott wird einst die fehlenden Puzzlestücke ergänzen. Wenn ich also im Diesseits mich und meine Träume nicht verwirkliche, wenn ich mir und anderen manches schuldig geblieben bin, wenn ich zum Opfer meines Lebensstils oder fremder Interessen geworden bin, dann ist das nicht das endgültige Urteil über mich, denn da kommt noch was, weil mich Einer nicht kritisch beurteilt, sondern liebevoll ansieht und mir einfach schenkt, was mir abgeht.

Nein, mir ist nicht wohl dabei, dem freien Willen anderer ausgeliefert zu sein. Aber der Engel hat mir versichert, dass man damit leben kann.

 

Artikelinformationen

Beitrag von , veröffentlicht am 13. Juli 2017 in der Rubrik Meinungen, erschienen in der Ausgabe .

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Wilfried Steller ist Theologischer Redakteur von "Evangelisches Frankfurt" und Pfarrer in Frankfurt-Fechenheim.

Kommentare zu diesem Artikel

  • G. Mueller-Debus schrieb am 13. Juli 2017

    Danke fuer diesen wunderschoenen Beitrag. Er erinnert auch an die Aussage Dietrich Bonhoeffers, dass man, gleich, wie tief man faellt, stets in die Hand Gottes faellt.

  • Friedrich Peter Niebling schrieb am 15. Juli 2017

    Woher liebe Schreiberin, wissen Sie, was ich mir angesichts solcher Dramen wünsche? Ich wünsche mir, dass wir in Persönlichkeitsform reden und schreiben. In welcher Funktion steht dieses „man“? Heil voll ist es nicht, und so überflüssig wie ein Kropf. Eine Ansprache in Ichform, kommt ehrlicher, vertrauenswürdiger rüber.
    Und ich wünsche mir eine andere Begründung für das Geschehen in London. Für Sie, sind die geldgierigen Vermieter Schuld. Und so wird es im Allgemeinen auch betrachtet. Doch weder Vermieter noch deren Kritiker sind mit dieser Art der Schuldzuteilung, in die Lage versetzt, solche Zustände zu ändern. Und verstärkt solch eine Zuteilung nicht auch noch das Adam und Eva Syndrom? Da kann ja nur noch ein Schutzengel helfen! Oder?
    Nun gut! Durch meinen Senf, den ich dazu gebe, sind die Herrschaften ebenso wenig in die Lage versetzt, sich um zu orientieren. Was meinen Kommentar sicher nicht sinnlos macht. Zumindest ist es für mich wieder einmal eine gute Gelegenheit, nachzuspüren, wie frei mein Wille denn tatsächlich ist, wenn ich ihren Artikel kommentiere. Was treibt mich dabei an? Und vielleicht wird mir dabei gewahr werden, welch Motive sich hinter meiner Schreiberei verbergen. Was will ich, was muss ich hervorbringen? Wem bin ich was schuldig? Vielleicht bediene ich lediglich meine Spontanität. Vielleicht weiche ich damit anderen Notwendigkeiten aus. Vielleicht muss ich mich wertig machen. Vielleich, vielleicht, vielleicht! Es gibt mit Sicherheit noch viele solcher Möglichkeiten. Bleibt es dennoch beim freien Willen? Oder ist der freie Wille nicht doch eher eine Illusion der Möglichkeiten? Wenn ich die Worte „ach hätte ich doch nur“ oder, „ach hättest Du doch“ höre, wird mir klar, dass unsere Entscheidungen vielfach eher einer Folgerichtigkeit, denn unserem freien Willen untergeordnet sind. Wem unterliegt ein Vermieter, wenn er –gar entgegengesetzt seines christlichen Glaubens- eine so hohe Miete Verlangt, dass ein Arbeiter sie nicht zahlen kann. Auch hier ließen sich noch viele Beispiele dafür finden, wie sehr unser sogenannter freier Wille nicht dem entspricht, was wir lauthals an Ideale verkünden.
    Was müsste geschehen, um solche Szenarien –auch die aus der Hauptverkehrszeit- zu verhindern? Zuvorderst müssten wir uns ein Bewusstsein darüber schaffen, ob wir solche Zustände überhaupt verändern wollen. Schnell sind wir dann vor die Frage gestellt, ob die herrschenden Machtverhältnisse überhaupt jemals zu ändern sind. Und letztlich ergäbe sich die Frage, wie es denn mit unserem freien Willen bestellt ist. Ist unser freier Wille eher durch die von „uns“ –natürlich notwendigerweise- geschaffene „Gesellschaftsordnung“ inklusive der Kapitalmärkte begrenzt, oder findet er seine Grenzen eher an unserer inneren Ordnung, einschließlich unserer Ängste, welche ebenso –wenn auch unbemerkt- Teil unserer Identität sind, die zu ändern eins der Schwersten ist, weil die Gefahr besteht, dass uns Teile unserer Selbstverständlichkeit verloren gehen könnten. Und das auch dann noch, wenn sie schon verloren gegangen sind und nur noch ein Notprogramm hilft, die Tage zu überstehen. Jedes Wachstum beinhaltet nun mal ein Sterben und Neuwerden, womit –um das Sterben zu verhindern- das Wachstum weitgehend nur noch auf der Körperebene bzw. in materieller Hinsicht stattfinden kann. Und wenn das Neue nicht bekannt oder auch nicht mal vorstellbar ist, gibt es eben eine massive Abwehr gegen eine Veränderung bezüglich einer geistig/seelischen Reifung; eine Reifung, welche die Selbstbestimmung bzw. unseren freien Willen erst möglich macht. Selbst die Abwehr vieler Patienten, welche sich eigens zum Zwecke einer Veränderung, in eine Klinik begeben, widersteht oftmals dem Willen aller Beteiligten. Welche Chance hat da Otto Normalverbraucher, der nicht mal „verrückt“ ist? Der begnügt und bewegt sich mit dem Überbleibsel am freien Willen innerhalb der Norm. Ob als geldgieriger Vermieter oder am sogenannten Rande der Gesellschaft; ob als Banker oder als Leider in einem Amt, oder als sonst irgendwie Verpflichteter. Ganz schön verrückt, nicht wahr! Jedenfalls gibt es ihm Halt. Und solange er den Halt nicht durch solche Szenarien verliert, hält ihn vielleicht zusätzlich die Gewissheit, dass er Vollendung erleben wird, dass er einst einen Raum haben wird, in dem er alle Wege gehen kann, mit allen Entscheidungen ins Reine kommen wird, alle ungenutzten Chancen realisieren wird und lebenssatt auf seine Existenz schauen kann. Und er hofft, dass ihn einer nicht kritisch beurteilt, sondern liebevoll ansieht und ihm schenkt, was ihm abgeht. Vielleicht!!! Und was, wenn nicht? Vielleicht wechselt er die Seite und wird vollends zu einem Unhold. Freiwillig? Oder gezwungen?
    Vielleicht aber führt ihn sein beschränkter freier Wille im Zusammenhang mit seinem reichen Erleben dazu, zu erkennen, was in ihm abgeht oder nicht abgeht, aber abgehen sollte. Und vielleicht kann er seine kindlichen Reaktionen auf kritische Beurteilungen, aufgeben und diese kritischen Beurteilungen zu seiner Reifung nutzen. Das heißt, vielleicht kann er sich von seiner Abhängigkeit von den Reaktionen der anderen auf ihn, befreien, und somit einem freien Willen näher kommen. Und je mehr Menschen das erreichen, desto weniger Menschen sind dem nicht wirklich freien Willen anderer ausgeliefert.

    Friedrich Peter Niebling

  • Friedrich Peter Niebling schrieb am 15. Juli 2017

    Ergänzung:
    Naja! Dem freien Willen des Herrn Kim Jong Un, oder sonstigen Machthabern vielleicht doch. Damit aber kann ich leben. Und wie? Indem ich mir freiwillig oder unfreiwillig mein Leben nehme. Als Schreiberling oder in der Küche beim Kochen, oder als Eintänzer im Garten, oder als Einkäufer im Supermarkt. Und wenn ich bemerke, dass ich mir mein Leben doch nicht in rechter Weise genommen habe, will ich mein Leben so gestalten, dass ich es mir eben halt so nehmen will, wie es halt eben ist. Eine weitere gute Gelegenheit zu erfahren, wie frei mein freier Wille ist.
    Friedrich Peter Niebling